1925 kam der Film «Grass – A Nation’s Battle for Life» in die amerikanischen Kinos. Dieser Stummfilm ist einer der frühesten ethnografischen Dokumentarfilme . Die späteren Macher von «King Kong» schildern darin in dramatischen Schwarz-Weiss-Bildern, wie 50 000 persische Bachtiaren-Nomaden (siehe Box am Ende des Beitrags)mit ihren Herden in tagelangen Märschen über das Zagros-Gebirge ziehen auf der Suche nach Gras und saftigen Weidegründen. Sie überqueren dabei mehrere schroffe Bergketten mit bis zu 3000 Meter hohen Pässen, reissende Flüsse und zuletzt das Massiv des Zard Kuh, mit 4548 Metern der höchste Gipfel des Zagros-Gebirges.
Uns erschüttert die mangelnde Wertschätzung. Die städtischen Iraner nehmen die Nomaden als Menschen wahr, die in einem früheren Stadium der Zivilisation stehen geblieben seien.
Seit dem 13. Jahrhundert migrieren die Bachtiaren im April und im Oktober mit ihren Ziegen-, Schaf- oder Rinderherden zwischen den Hochplateauweiden von Chahar Mahaal und der 300 Kilometer entfernten Tiefebene im nordöstlichen Chuzestan. Ihre 15 bis 45 Tage dauernde Migration – auf persisch kuč – gehört zu den spektakulärsten unter den Pastoralisten weltweit. Sie müssen ihre Migration mit äusserster Sorgfalt planen, um die Risiken von überraschendem Schneefall, Überschwemmung von Gebirgsflüssen und mangelnder Beweidung zu minimieren. Dennoch forderte die kuč jedes Mal einen hohen Tribut. Die Nomaden erlitten häufig Unfälle und Viehverluste, wenn sie über schneebedeckte Pfade und durch felsige Schluchten kletterten und die Tiere schwimmend oder auf Flössen aus aufgeblasenen Ziegenhäuten über die während der Schneeschmelze tobende Flüsse übersetzten.
Knapp 100 Jahre später reisen wir ins Zagros-Gebirge und folgen den Spuren der Filmemacher. Wir wollen uns ein Bild machen, wie sich das Nomadenleben der Bachtiaren seit dem ersten Filmportrait verändert hat.
Es ist nicht ganz einfach, die Nomaden in diesem riesigen Gebirge zu lokalisieren. Wir versuchen es zunächst in Chelgerd. Dort sind die Berge immer noch bis tief in die Täler mit Schnee bedeckt. Für die Migration sei es deshalb noch zu früh, teilen uns die Dorfbewohner – sesshafte Bachtiaren – mit. Die Männer – ob jung oder alt – erkennt man sofort an ihrer typischen Kleidung als solche: Pluderhosen, eine schwarze, haubenförmige Filzkappe auf dem Kopf und oft eine Chokha, eine bis an die Knie reichende, offen getragene Kurzärmeljacke, die in einem an Klaviertasten erinnernden Muster gewoben ist. Bei den Frauen ist die Kleidung weniger charakteristisch: Die Mädchen und jungen Frauen sind farbig gekleidet mit langen Röcken und Kopftüchern, die älteren völlig in schwarz.
The mighty river Karun!
Die für den Übergang bevorzugte Stelle befindet sich in der Nähe einer kleinen Siedlung. Unweit vom Ufer hat sich eine Bachtiaren-Familie ein Haus mit einem grossen Innenhof gebaut. Sämtliche täglich anfallenden Arbeiten werden ausgeführt, als ob sie noch mit dem Zelt unterwegs wären. Die Frauen spinnen die Schafwolle mit einer Handspindel und das papierdünne Fladenbrot wird vor dem Haus gebacken. Die Milch der Ziegen und Schafe wird zu Kashk – kleinen Trockenkäsekugeln – verarbeitet und auf einem Holzgestell getrocknet. Sie sind besonders lecker, da sie durch die nahe gelegene Feuerstelle einen dezenten Rauchgeschmack erhalten. Auf meine Frage, welches Holz er verwendet, weist der Gastgeber auf den gegenüberliegenden Hügel. Er ist übersäht mit prächtigen Zagros-Eichen. Sassan zeigt mir eine schmale, längliche Eichel und bestätigt, dass diese essbar sei. Nicht nur die Tiere profitieren von der Frucht, auch die Menschen bereiten aus ihr ein schwarzes Brot zu. Damit ist sie eine Hauptnahrung für die Bevölkerung in diesem Gebiet. Die Bäume liefern nicht nur Holz und Nahrung für Tier und Mensch, sondern auch Schatten zum Nutzen niederer Anpflanzungen und sie speichern auch Wasser und verhindern Bodenerosion und Überschwemmungen. Umso wichtiger erscheinen Information und Schulung der Bevölkerung zum Erhalt und der nachhaltigen Nutzung der Wälder. Im Frühling gab es eine Überschwemmungs-Katastrophe, in der mehrere Menschen den Tod fanden. Als eine wesentliche Ursache dafür sehen Experten den massiven Rückgang des Zagros-Waldes. Er hat aufgrund des Klimawandels, verbunden mit Trockenheit, in den letzten 10 Jahren gegen eine Million Hektaren an Fläche eingebüsst. Mittlerweile ist es gesetzlich verboten, den Wald weiter abzuholzen.
Die hochschwangere, aber noch farbig gekleidete Schwiegertochter kocht uns Tee und hilft zwischendurch der gerade von der mehrere Kilometer entfernten Wasserstelle zurückgekehrten 17-Jährigen beim Entladen der beiden Esel. Mittlerweile sind alle Herden von der Weide zurückgekehrt. Die Hirtenhunde tollen ums Zelt und scheuchen dabei die Hühner auf. Die Sonne ist untergegangen und wir schauen uns um nach einer schönen Schlafstelle. Sassan schlägt die in der Nähe der Zelte stehende, riesige Zagros-Eiche vor. Sie ist ein Bilderbuchbaum. Wir werden die Nacht unter ihren Ästen verbringen. Zuvor werden wir von der Mutter noch reich beschenkt mit einem Sack voll Kashk. In den nächsten Wochen werden unsere Zwischenmahlzeiten daraus bestehen.
Dass die Zahl der Nomaden im Iran in den letzten Jahren stabil geblieben ist und dass Präsident Hassan Rohani sie als Vorbild beim Schutz der Umwelt bezeichnet hat, lässt hoffen.
For days they journey over rugged hills, camping in the valleys – until one morning before them roars a deep and treacherous torrent.
Die Bachtiaren schliessen sich nicht mehr wie früher zu Gruppen bis zu 50 000 Personen zusammen. Es sind heute kleinere Verbünde von 2 bis 20 Familien, die sich gemeinsam auf den Weg machen. Die Migrationsrouten haben sich dagegen – abgesehen von den neuen Strassen – wenig verändert, da es im Zagros-Gebirge nur fünf oder höchstens sieben Passrouten gibt. Dies führt dazu, dass die Übernachtungsplätze aufgrund langjähriger Überlieferungen ebenfalls fast immer die gleichen geblieben sind.
Da Sassan den Weg der Nomadenfamilie kennt, schlägt er vor, dass wir ihnen auf der anderen Seite des Passes entgegenfahren. Dies bedeutet, um den Berg herumzufahren und auf ihre Ankunft zu warten. Wir nehmen uns noch etwas Zeit fürs Abbrechen unseres Lagers. Als wir oben ankommen, ist weit und breit nichts zu sehen. Wir laufen ihnen entgegen, treffen aber nur auf eine andere Familie. Wir haben das Tempo unserer Familie völlig unterschätzt. Sie sind schon längst an dieser Stelle vorbeigezogen. Ihrem weiteren Weg können wir leider nicht mehr folgen, denn es sind Pfade, die nur die Nomaden erkennen können …
… on the way where there is no way. Folge Sylvia und Holger auf www.chaostours.ch
Der Name lässt sich am besten mit «Glücksbringer» übersetzen. Der rund 600 000-köpfige Stamm der Bachtiaren lebt im südwestlichen Iran auf einer Fläche von ca. 75 000 km² im zentralen Zagros-Gebirge, einer Bergkette, die sich über rund 1500 Kilometer von der irakischen Grenze bis zur Strasse von Hormuz zieht und so hoch wie die Alpen und so breit wie die Schweiz ist. Obwohl nur etwa ein Drittel von ihnen Nomaden sind, verkörpert das Nomadentum die kulturellen Ideale der Bachtiaren. Gleichzeitig zeigen die Bachtiaren beispielhaft, wie sesshafte und nomadische Bevölkerungsteile in symbiotischer Weise wirtschaftlich, sozial und politisch miteinander verflochten sind, obwohl die Sesshaften eher dazu tendieren, sich in die iranische Kultur zu assimilieren.
Die Bachtiaren sprechen einen persischen Dialekt namens Lori und sind schiitische Muslime. Zu den Zeiten der Schahs bildete der Stamm eine Konföderation mit vom Schah ernannten Khans. Reza Schah, der den Iran in den 1930er-Jahren um jeden Preis modernisieren wollte, entmachtete jedoch diese, liess einige von ihnen hinrichten und zwang die Bachtiaren, sesshaft zu werden.
Die tief verwurzelten Traditionen und das Patriarchat haben den Wandel lange von den Bachtiaren ferngehalten. In den ersten Jahren der Islamischen Republik scheinen sich ihre Lebensbedingungen jedoch stärker verändert zu haben als im halben Jahrhundert des Pahlavi-Regimes. Die jahrzehntelangen Bestrebungen der Regierung, sie sesshaft zu machen, ein mittlerweile gut ausgebautes Strassennetz, die bessere Schulbildung, sowie bessere Kommunikationsmöglichkeiten durch Mobilephones und Internet haben zu diesem Wandel beigetragen. Der Fortschritt hat auch Zäune und Staudämme gebracht, die ihre alten Migrationsrouten blockieren. Die Zukunft wird zeigen, welchen Stellenwert die Islamische Republik und die iranische Gesellschaft den Nomaden mit ihrer Jahrhunderte alten, die Natur schonenden Kultur einräumen wird. Dass die Zahl der Nomaden im Iran in den letzten Jahren stabil geblieben ist und dass Präsident Hassan Rohani sie als Vorbild beim Schutz der Umwelt bezeichnet hat, lässt hoffen.