Überlebensstrategien einer Paarbeziehung auf Overlandreisen
Überlebensstrategien einer Paarbeziehung auf Overlandreisen

Unsere grösste gemeinsame Leidenschaft ist das Reisen. Am liebsten mit dem Rucksack oder unserem Land Cruiser in entlegene Gegenden. Solche Reisen sind für eine Paarbeziehung immer wieder eine harte Belastungsprobe. Die folgenden drei Strategien
erwiesen sich immer wieder als hilfreich auf unseren gemeinsamen Reisen.

Strategie 1: Schadensbericht
Kurz nachdem wir uns 1975 im Studentenheim kennengelernt hatten, gingen wir zusammen auf Reisen und spürten in Griechenland, der Türkei und dem Irak den Spuren des Altertums nach. Als sich nach dem Studium ein Zeitfenster von fünf Monaten öffnete, wollten wir dieses für eine längere Rucksackreise nach Indien, Sri Lanka und Nepal nutzen. Zu Beginn machten wir alles falsch: Wir sparten bei den Unterkünften, tranken eisgekühlte Getränke statt heissen Tee und liessen uns ein paar Mal leichtfertig übers Ohr hauen. So litten wir unter den Bissen von Bettwanzen und Flöhen, hatten Bauchkrämpfe und Durchfall und waren dauernd auf der Hut vor weiteren Betrügereien. Die Reise drohte zu einem Desaster zu werden.

Der Tiefpunkt kam in Varanasi: Sylvia fühlte sich miserabel und bat mich, sie ins Guesthouse zurückzubringen. Ich wollte aber fotografieren und verstand nicht, wo ihr Problem lag. Sie war zu schwach, um meine Fragen zu beantworten und ich verstand nicht, warum sie sich nicht klarer ausdrückte. Wir hatten ein Kommunikationsproblem. Erst als sie sich nicht mehr von der Stelle rührte, realisierte ich die Ernsthaftigkeit der Situation. Da wurde uns beiden klar, dass wir so nicht weiter miteinander reisen können.

«Gerettet hat uns Science-Fiction. In Anlehnung an die Schadensberichte in Star Trek haben wir uns allmorgendlich gegenseitig über unsere Befindlichkeit abgefragt.»

Dennoch setzten wir die Reise fort. Gerettet hat uns Science-Fiction. In Anlehnung an die Schadensberichte in «Star Trek» haben wir damit begonnen, uns auf Reisen allmorgendlich gegenseitig über unsere Befindlichkeit von Kopf bis Fuss abzufragen (medizinisch könnte man es auch einen kurzer Körper- und Psychostatus nennen):

  • Kopf: Hast du Schmerzen? Wie steht es mit der Müdigkeit? Wie hast du letzte Nacht geschlafen?
  • Atemsystem: Hast du Schluckweh, Husten, Schnupfen, Atembeschwerden?
  • Verdauung: Wie steht es mit dem Appetit? Hast du Bauchbeschwerden, Durchfall, Verstopfung, genug getrunken?
  • Gliedmassen: Spürst du den Rücken, die Schultern, die Knie und Füsse? (besonders wichtig beim Trekking)
  • Haut: Hast du Sonnenbrand, Insektenstiche, Wunden?
  • Und zuletzt: Allgemeinzustand und Moral, letzteres wird mit einer Note umschrieben. Weniger als 4 ist Alarmzustand. Dann wäre z.B. ein Ruhetag angesagt.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.
Nach zwei Wochen Marsch durch die Sümpfe von Westpapua muss man nicht mehr viel fragen.
Der Nutzen des Schadensberichts liegt in der frühzeitigen Erkennung sich anbahnender Probleme. Sind diese kommuniziert, kann der Partner bei der nächsten Rast oder am Abend nachfragen, seine Anteilnahme ist gesichert und Massnahmen werden frühzeitig ergriffen.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.

Ruhetag in Tibet: Sylvia hat erste Symptome der Höhenkrankheit.

Strategie 2: Ritualisierter Tagesrückblick im Recovery Tent
Ermutigt durch die positiven Erlebnisse auf unseren Reisen, öffneten wir uns für Kulturen, die so ganz anders als wir funktionieren. Oft kamen wir jedoch auch an unsere Grenzen, sei es bezüglich extremer Klimaverhältnisse, körperlicher Anstrengung beim Trekking, schlechter Hygiene, uns anfänglich ekelnder Speisen oder für uns unvorstellbare Gesundheitsprobleme der Bevölkerung, ganz abgesehen vom gänzlichen Versagen gewisser Staaten bezüglich Schulung von Kindern oder Bereitstellung der primitivsten Infrastruktur wie Brunnen, brauchbare Stassen oder Versorgung mit Energie. Unser Bestreben war immer, jeden Einzelnen mit Respekt zu begegnen. Aber wie schafft man das, wenn uns Wohlstandsverwöhnten so viel Elend und unlösbare Probleme begegnen? Und wie schaffen wir es, unsere Betroffenheit und Stimmung nicht an ihnen oder am Partner auszulassen? So entwickelten wir mit den Jahren auf unseren Reisen, die uns zunehmend zu entlegenen und nicht immer leicht zugänglichen Kulturen führten, Schritt für Schritt eine weitere Strategie.

«Rückzug ins Recovery Tent: Wir ziehen uns eine halbe Stunde ins Zelt zurück, um etwas Distanz von all den intensiven Eindrücken zu gewinnen.»

Wir lernten durch Beobachtung und Mitmachen: Als wir in Kamtschatka mit drei Russen unterwegs waren und uns die Lebensmittel auszugehen drohten, nahm unser Guide eine Flasche Wodka hervor und jeder musste vor dem Trinken aus dem kleinen Glas einen Trinkspruch zum Besten geben. Meist ging es um die Freundschaft zwischen den Völkern, aber auch um Wünsche bezüglich Gelingens des gemeinsamen Trekkings. Auch später in Sibirien bei den Rentiernomaden war nie einer betrunken, eher liebevoll konzentriert auf die mit dem Gesagten verbundenen Emotionen.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.

Im August im Zelt eingeschneit bei der Umrundung des Amnye Machen in Osttibet.

Ein anderes Ritual brachte uns Frans aus Namibia bei, als wir mit ihm und dem Land Cruiser im Südwesten von Angola unterwegs waren: Sobald wir einen Übernachtungsplatz im Busch gefunden hatten, wurden zuerst die Campingstühle und der Tisch aufgestellt, dann aus der mitgeführten Kühltruhe Gläser mit Cola und Brandy gefüllt und beim Sundowner ein Tagesrückblick ausgetauscht. Erst danach machten wir uns ans Kochen des Abendessens.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.

Warmes Reisbier offeriert vom Dorfchef nach anstrengendem Tag in den burmesischen Naga-Hügeln.

Auf unseren Trekkingreisen in Westpapua, bei den Kogi in Kolumbien oder den Naga in Myanmar verbrachten wir den ganzen Tag eng mit Menschen ganz anderer Kulturen. Dabei lernten wir, wie wichtig es für unsere Psychohygiene ist, uns am Abend vor dem Nachtessen für eine halbe Stunde ins Zelt zurückzuziehen und von all den intensiven Eindrücken etwas Distanz zu gewinnen. Wir nennen dies Rückzug ins Recovery Tent.

Wir wissen mittlerweile, dass wir unter Spannung stehen, sobald wir uns ausserhalb der uns vertrauten Zivilisation aufhalten, das Erlebte uns stärker bewegt, als wir wahrhaben wollen und wir nicht wissen, was uns der nächste Tag bringt. Diese emotionale Spannung kann leicht falsch ausagiert werden. Eine Möglichkeit, sie zu reduzieren, ist der ritualisierte Tagesrückblick – verbunden mit drei Trinksprüchen – im Recovery Tent. Wir ziehen uns also zur Zeit der Happy Hour in unser Zelt oder in unseren Land Cruiser zurück und jeder kriegt abwechslungsweise drei Verschlussdeckel, gefüllt mit vor dem Abflug im Duty Free gekauften Whisky, die jeweils mit einem wertschätzenden Spruch gegenüber Land und Leuten sowie gegenüber dem Partner geleert werden. In islamischen Ländern haben wir gelernt, dass dieses Ritual auch ohne Alkohol wirkt.

Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.

Happy Hour im von uns Monsterli getauften Land Cruiser.

Strategie 3: Schnitt! Lola renn!
Auch in einer langjährigen Beziehung ist die Kommunikation zwischen den Partnern oft von Missverständnissen geprägt. Dies führt unweigerlich zu gehässigen Reaktionen und Streit. So sehr wir uns immer wieder mehr Gelassenheit wünschen und dauernd daran arbeiten, haben wir uns gelegentlich in einer Negativspirale mit unnötigen Verletzungen verrannt, aus der es fast kein Zurück mehr gab. Auf der Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten kam uns wieder Star Trek zu Hilfe: In einigen Serien von Deep Space Nine taucht eine alternative Realität auf. Dort existiert ein Paralleluniversum, in dem die Hauptcharaktere teilweise gänzlich ins Gegenteil verkehrte Wesenszüge haben. Das Konzept einer alternativen Welt wird oft in Filmen umgesetzt. Dies geschieht durch die Darstellung alternativer Handlungsstränge («Was wäre, wenn…?»). Ein Beispiel dafür ist der Film «Lola rennt» . Der Film zeigt dreimal dieselbe Zeitspanne von zwanzig Minuten, jedes Mal mit kleinen Detailunterschieden, die die Handlung jeweils zu einem völlig anderen Ausgang führen (Schmetterlingseffekt in der Form einer Zeitschleife).

Fühlt man sich verletzt, spricht man das Zauberwort. Dem anderen wird damit klar, den bisherigen Film hier anzuhalten und einen Moment innezuhalten.

Wir haben daraus auf unserer fast sechs Monate dauernden Reise mit dem Land Cruiser nach Zentralasien folgende Regel für uns entwickelt: Sobald sich einer von uns durch Äusserungen oder Handlungen verletzt fühlt, spricht man das Zauberwort: «Schnitt! Lola renn!» Dem anderen wird damit klar, den «bisherigen Film» hier anzuhalten und einen Moment innezuhalten. So erhalten beide die Gelegenheit, emotional etwas Distanz zu gewinnen und zu reflektieren, was hier schiefgelaufen ist. Erst dann ist es möglich, eine alternative Realität zu kreieren mit einer Wortwahl oder Handlung, die einen weniger verletzenden Effekt hat. Je früher die Intervention erfolgt, desto leichter fällt es dem anderen, darauf einzutreten. Oft führt dies dann sogar zu einem Lachen auf beiden Seiten. Grundsätzlich will ja keiner den anderen verletzen.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.

Dem Partner bzw. der Partnerin helfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Diese Strategie kommt bei uns v.a. bei Missverständnissen zum Einsatz, die zustande kommen, wenn einer Informationen aus einem Guidebuch, einer Karte oder dem Internet hat und davon ausgeht, der andere sei auf dem gleichen Wissensstand oder es liegen unterschiedliche, nicht ausgesprochene Interessen oder Erwartungen an den Partner vor: Der eine macht einen begeisterten Vorschlag, der beim anderen als ein Befehl zu etwas ankommt, auf das er keine Lust hat, und es dann entsprechend entwertet.

Diese drei Strategien erwiesen sich immer wieder als hilfreich auf unseren gemeinsamen Reisen in den letzten 45 Jahren, die uns zu den interessantesten Völkern der Erde geführt haben. Es lohnt sich immer, um eine Paarbeziehung zu kämpfen.

Folge Sylvia und Holger auf www.chaostours.ch