Obwohl Sylvia Furrer und Holger Hoffmann keine «Nomadenneulinge» sind, ist der Aufenthalt bei den Dolganen für sie ein Highlight. Fasziniert von der Wunderlandschaft und der ursprünglichen Kultur, nehmen sie die unsichere Anreise in Angriff, um – der sibirischen Kälte trotzend – Einblick in den Winteralltag dieser Rentiernomaden zu erhalten.
Ein Traum wird Wirklichkeit.
Auf früheren Reisen zu Nomaden in Sibirien hörten wir erstmals von den Dolganen, einem Nomadenstamm, der im Mündungsgebiet des Chatangaflusses ansässig ist. Sie wohnen nicht in Zelten, sondern in direkt auf grossen Rentierschlitten gebauten Behausungen, den Baloks. In diese Abgeschiedenheit zu kommen, ist nicht ganz einfach. Die Flüge sind selten, stark abhängig vom wechselhaften Wetter und von den massiven Winden, die über die flache Tundra peitschen. Und es braucht nebst einer Einladung eine Spezialbewilligung des russischen Geheimdienstes. Das Gebiet liegt in militärischem Sperrgebiet. Bei unserem ersten Versuch vor einem Jahr erhielten wir diese zwar, aber erst nach Ablauf unseres Visums. So versuchen wir es dieses Jahr erneut, und siehe da, diesmal erhalten wir sie gerade noch rechtzeitig.
Bei minus 20 Grad Celsius schleppen wir unser Gepäck über das vereiste Rollfeld und betreten das Flughafengebäude aus altem Wellblech.
Zwischenstationen. Russland, Norilsk – die trostlosen, vom Rauch der Industriekamine umhüllten Plattenbauten erwecken ein Bild von Sibirien wie aus alten Sowjetzeiten. Der Ort ist wegen des Nickelabbaus eine der am stärksten verschmutzten Städte der Welt. Auf uns wirkt sie verstörend und faszinierend zugleich.
Norilsk. Die Nickelindustrie hat die Grossstadt immer noch fest in der Hand. Verschmutzung und ein Flair wie aus Sowjetzeiten sind die bleibenden Eindrücke.
Das gute Wetter ermöglicht uns den Weiterflug in die Taimyrsenke. Mit einer Antonow 26 erreichen wir Chatanga. Bei minus 20 Grad Celsius schleppen wir unser Gepäck über das vereiste Rollfeld und betreten das Flughafengebäude aus altem Wellblech. Masha erwartet uns schon. Sie ist unsere Verbindungsfrau zwischen Olga, uns und Spiridon, unserem Gastvater. Olga, eine in Moskau lebende Jakutin, ist inzwischen eine treue Reisebegleiterin in sibirischen Regionen und war schon in Yamal mit uns unterwegs. Auch auf unserem bevorstehenden Trip zählen wir wieder auf ihre Übersetzungskünste. Die Kultur der Dolganen erstreckt sich vom nördlichen Teil der Region Krasnojarsk bis in die Republik Jakutien, und so können sich die Menschen in derselben Sprache verständigen. Olga spricht zwar Russisch, es ist aber auch für sie eine Fremdsprache.
Kaum haben wir im einzigen Hotel von Chatanga eingecheckt, erfahren wir, dass wir im örtlichen Museum erwartet werden. Fremdländische Besucher sind hier selten, und so will man die Gelegenheit nutzen, uns offiziell zu empfangen und die Neugierde zu stillen. Das ist natürlich auch für uns interessant. Bereits beim Eintreten reissen wir uns wegen der üblichen russischen Überheizung Mützen, Daunenjacken und die Dreifachhandschuhe vom Leib. Wir werden in einen Raum gebeten, der schon gut besetzt ist mit Menschen. Alle Augen richten sich auf uns. Eine der älteren Damen lädt uns ein, mit ihnen am Tisch in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Dieser ist reich gedeckt mit verschiedensten Gerichten und Leckereien. Zur Unterhaltung werden Lieder auf der Maultrommel dargeboten, und ein älterer Mann improvisiert spontan ein paar Lieder. Heute singt er über die Begegnung mit den zwei Schweizern und Olga.
Zum Abschied gibt mir Tatjana, eine bejahrte Dolgan-Frau, ein kleines Säckchen mit einem besonderen Inhalt mit: Ich solle das darin enthaltene Fisch- und Rentierfett auf ein Holzscheit legen und damit dann den Ofen im Balok anfeuern, damit uns die Geister für unsere Reise wohlgesinnt sind.
In der guten Stube. Olga (ganz links), Holger und Sylvia sind bei den Gastgeberinnen Irina und Anna gut aufgehoben und umsorgt.
Mit dem russischen Trekol 6×6 durch das weisse Nichts braucht einiges an Vertrauen. Auf dem eis- und schneebedeckten Chatangafluss geht’s immer weiter hinein in sibirisches Nomadengebiet.
Nach über fünf Stunden Fahrt durch weisses Nichts fahren wir im Dorf Novorybnaja ein. Wir werden in die Räumlichkeiten der Gemeindeverwaltung gebeten, die derzeit wegen eines Umbaus auch gleichzeitig als Schule dienen. Ein reich gedeckter Tisch mit Köstlichkeiten erwartet uns. Das sei hier immer so, wenn Durchreisende per Funk vorangemeldet seien. Es gibt rohe Fischröllchen mit Knoblauchfüllung, frittierte Fischschwänze, rohen Lachs mit Zwiebeln und Rentierbouletten. Wir bedanken uns für die reichliche Verpflegung, indem wir für das in zwei Wochen stattfindende Rentiernomadenfest einen Geldpreis für die Kinderwettkämpfe stiften. Nachdem wir unsere Thermoskanne mit heissem Tee gefüllt haben, geht es weiter.
Der Schnee wird immer tiefer, bis unser Monster von einem Geländefahrzeug stecken bleibt. Vladimir nimmt es gelassen, packt die Schaufel, und nach dem dritten Versuch sind wir wieder frei. An den im letzten Sonnenlicht rot erstrahlenden Uferböschungen vorbeifahrend, treffen wir nach 12 Stunden Fahrt im 400-Seelen-Dorf Syndassko ein, dem zweitnördlichsten Dorf Sibiriens, das ganzjährig bewohnt ist. Nachdem wir unser Quartier für die Übernachtung bezogen haben und von Anna, der Schwester unserer künftigen Gastmutter Irina, mit leckerem Rentierfleischrisotto verköstigt worden sind, lernen wir Nina Porotova, die umtriebige Bürgermeisterin, kennen. Sie preist uns ihr Dorf als zu 100 Prozent von Dolganen bewohnt an.
Am nächsten Morgen schlendern wir durch das Dorf, das aus gleichförmigen, einstöckigen Holzhäusern besteht. Die Wohnungen verfügen über eine Küche und ein Wohn-/Schlafzimmer. Der Vorraum ist gleichzeitig Kohle- und Holzkeller sowie Ablage für die Eisblöcke für das Trinkwasser. Dazu werden die Eisblöcke zerhackt und zum Auftauen in einem Topf neben den Ofen gestellt. Die «mobile Toilette» besteht aus einem Eimer, der im eiskalten Kohlekeller aufbewahrt wird. Nach verrichtetem Geschäft leert man ihn einfach auf die Strasse. Als ich das erste Mal «muss» und danach mit dem Eimer auf die Strasse trete, rennt eine Hundemeute erwartungsvoll auf mich zu.
Syndassko. Zwischenstopp im 400-Seelen-Dorf. Die ganzjährig bewohnte Dolgan-Siedlung empfängt die raren Besucher mit herzlicher Gastfreundschaft.
Im einzigen kleinen Lebensmittelgeschäft des Ortes decken wir uns mit einigen Flaschen Wodka für unsere Gastfamilie und mit Früchten und Süssigkeiten für die Kinder ein. Bei einem Abstecher auf einen kleinen Hügel bietet sich ein schöner Ausblick über die Umgebung. Hier liegt auch der Friedhof. Die Särge können wegen des Permafrosts nicht in die Erde versenkt werden, sondern werden auf Schlitten befestigt. Der Schnee legt sich dann wie eine Decke darüber. In der Vergangenheit hat sich die schamanische Religion der Dolgan mit dem Christentum vermischt, und so wacht heute über jedem Sarg ein orthodoxes Kreuz.
Wohin des Weges? Nach dem Mittagessen brechen wir mit Anna, ihren Kindern und Mikhail, Spiridons ältestem Sohn, auf zwei Buran (Motorschlitten) mit angehängten Transportschlitten zu unserer nomadischen Gastfamilie auf. Die Fahrt über 40 Kilometer soll etwa zwei Stunden dauern. Holger und ich haben dafür erstmals unsere Daunenoveralls angezogen, die nicht nur über einen Reissverschluss vorne, sondern auch einen hinten verfügen – was vor allem für mich als Frau bei der Kälte von grossem Vorteil ist. Nach einer halben Stunde gibt der Buran mit dem Gepäckschlitten den Geist auf. Mikhail ist unsicher, wie lange die Reparatur dauern wird, und schickt uns deshalb mit dem anderen Fahrer vor. Die Landschaft ist leicht hügelig, der Himmel bedeckt. Das Auge findet keine Fixpunkte, keine Bäume oder Sträucher, alles ist weiss. Nach zwei Stunden Fahrt beginnt es zu schneien und der Horizont verschwindet, genau so die Spur. Anna berät sich gelegentlich mit dem Fahrer – sie scheinen aber nicht gleicher Meinung zu sein, wo wir Spiridons Familie finden können. Die Richtungsangabe «geradeaus und dann links» ist wohl etwas dürftig ausgefallen. Ich versuche mir in solchen Situationen einzureden, dass diese Leute hier zu Hause sind und genau wissen, was sie tun. Ein kurzer Abstecher auf die nächste Erhebung führt zur Erlösung. Der Fahrer hat die Baloks in einem wolkenschleierfreien Moment am Horizont entdeckt. Wie wir später erfahren, gibt es ein Sicherheitsnetz. Wer mit einem Buran losfährt, meldet dies per Funk. Kommt er nicht innert nützlicher Frist am Zielort an, wird eine Suche gestartet.
Im Balok. Der ganze Hausrat hat auf kleinstem Raum Platz: Küche, Wohnraum und Schlafstätte.
Nach einer weiteren Stunde erreichen wir den Standplatz der Familie von Spiridon. Die Freude, sich endlich kennenzulernen, ist auf beiden Seiten gross. In einem der Baloks nehmen wir zwischen den versammelten Familienmitgliedern – Spiridon und Irina, der zweite Sohn Makar, die Tochter Dascha mit Mann Iwan und den beiden Kindern Irma, siebenjährig, und Markel, dreieinhalbjährig – auf den am Boden ausgebreiteten Rentierfellen Platz. Während Irina auf dem kleinen Ofen in der Ecke Tee und Essen zubereitet, studieren wir die Konstruktion der Behausung. Die Balken und Wände sind aus Holz, darüber ist zur Isolation eine Schicht Rentierfelle gespannt. Die äusserste Schicht ist aus Canvas zum Schutz vor der Witterung. Neben dem Ofen und den Fellen, die als Unterlage zum Sitzen und Schlafen dienen, gibt es noch einen niederen Tisch, drei Hocker, einige Töpfe für das Schmelzwasser und weitere Küchenutensilien, die an der Wand oder Decke hängen. Neben dem Fenster steht ein Funkgerät. Wir glauben es kaum: Auf einer Fläche von drei auf vier Metern sitzen zehn Erwachsene und sechs Kinder gemütlich beieinander. Als Mikhail eine Stunde später mit dem Gepäckschlitten auftaucht, wird es noch enger. Irina verteilt die mitgebrachten Süssigkeiten. Besonderen Anklang finden die Orangen. Die Kinder essen sie mit Hochgenuss. Als wir uns fragen, wie all diese Menschen die Nacht verbringen sollen, beruhigt uns Olga: Wir werden in einem separaten Balok schlafen.
Nach einer Suppe mit grossen Fleischstücken, die es mit dem Messer zu bearbeiten gilt, und feinen Rentierzungenscheiben gehen Holger und ich erstmals die wenigen Meter rüber zu «unserem» Balok. Es ist mittlerweile kurz nach acht, und wir werden Zeugen eines dramatischen Nachsonnenuntergang-Lichtspiels. Durch den vorgehängten Windschutzraum betreten wir die etwas kleinere Behausung. Holger und ich richten uns auf der einen Seite des Tisches, Olga sich auf der anderen ein. Unsere Schlafsäcke betten wir auf die weichen Rentierfelle. Mikhail hat in der Zwischenzeit eingeheizt. Die Energiesituation für die Dolgan in der Umgebung von Syndassko ist geradezu komfortabel. Am gegenüberliegenden Ufer von Syndassko gibt es eine Steinkohleader, die von den Dolganen gratis abgebaut werden darf. Zudem tragen die Flüsse reichlich Schwemmholz an die Ufer.
Spass bei der Arbeit. Rentiere für ein Schlittengespann einzufangen, kann dauern. Die Männer lassen sich aber durch Lassofehlwürfe nicht entmutigen.
Über Nacht haben sich die Rentiere der Familie bei der Futtersuche immer weiter von den Baloks entfernt. Holger darf Mikhail begleiten, um die Tiere mithilfe der Hunde zurückzutreiben. Die Männer wollen nämlich ein paar der halb domestizierten Tiere einfangen – Rentiere werden niemals völlig zahm –, um für das bevorstehende Schlittenrennen am Fest in Syndassko zu trainieren. Gekonnt werfen die Männer ihr Lasso nach einem Ren. Wenn sie dennoch verfehlen, das falsche Tier erwischen oder eines sich im letzten Moment aus der Schlinge befreien kann, wird herzhaft gelacht. Bis das Dutzend Tiere eingefangen und ins Zuggeschirr gelegt ist, dauert es eine gute Stunde.
Jetzt sind Mikhail, Makar und Iwan nicht mehr zu halten. Raus gehts zum Training in die weisse Unendlichkeit. Holger darf auch mit, nur die Hunde müssen widerstrebend zurückbleiben. Iwan kehrt aber bereits nach zehn Minuten zurück. In einer Kurve, die er zu eng genommen hat, ist eine Kufe gebrochen. Die anderen kommen nach einer Stunde mit Eiszapfen an Schnauz und Kapuze und einem Strahlen im Gesicht zurück. Während die Männer Iwans Schlitten flicken, lerne ich bei den Frauen, wie durch stundenlanges Einkochen von Rentierhufen eine wunderbare Sülze entsteht.
Kleine Überraschung. Am frühen Abend kommt Spiridon von einem Nachbarbesuch zurück. Aus seiner Felljacke zieht er zur Überraschung und Freude aller einen kleinen Welpen. Das drei Monate alte Wollknäuel stammt von einer Hündin ab, die Irina einst ihrer Nachbarin geschenkt hatte. Wegen ihrer guten Gene hatte Irina aber um einen Nachkommen gebeten. Ich darf die Kleine entgegennehmen und merke, dass sie vor Kälte am ganzen Körper zittert. Sie wird von den Kindern wegen des hauptsächlich weissen Fells Cuba getauft, was nichts mit dem Land zu tun hat, sondern in ihre Sprache übersetzt Schwan bedeutet. Schon bald tapst Cuba herum und wird von den Kindern herumgetragen und gehätschelt. Nachts gibt es aber kein Pardon: Sie schläft draussen im kalten Vorraum, immerhin auf einem für sie vorgesehenen Rentierfell. Irina antwortet auf meine Frage, wie die Hunde trainiert werden, dass kein Training nötig sei. Sie hätten die Arbeit im Blut und würden von den anderen Hunden lernen. Im Camp gibt es sechs Hunde. Ein schwarzer mit weissem Kragen, der Chef, ist völlig auf Spiridon fixiert. Er ist immer in seiner Nähe. Den Hunden zuzuschauen, wie sie die Rentiere zusammentreiben und dem Lassowerfer das richtige Tier zuführen, ist sehr beeindruckend. Sie hören die Rufe auf eine Distanz von mehreren Hundert Metern. An einem Abend treiben sie die Rentiere sogar ohne Auftrag zurück zu den Baloks. Die Tiere können ihren Hunger mit den immer im Schnee ausgelegten, gefrorenen Rentierlungen, Knochen oder Essensabfällen stillen. Ungeachtet der frostigen Temperaturen verbringen sie Tag und Nacht draussen.
Man scheint sich über den Wegverlauf nicht einig zu sein. Die Richtungsangabe «geradeaus und dann links» ist wohl etwas dürftig ausgefallen.
Campverschiebung. Am anderen Morgen überrascht uns Irina mit der Nachricht, dass sie beschlossen hat, das Camp in Hinblick auf das bevorstehende Fest in Richtung Syndassko zu verlagern. Für den Umzugsentscheid sind hier die Frauen zuständig. Nun sind wir gespannt, wie das funktioniert. Der einzige Auftrag an uns lautet, alle Gegenstände im Balok in Schachteln auf den Boden zu legen. Das ist schnell gemacht. Den Ofen lassen wir ausgehen, die Glut bleibt drin, damit bei Ankunft sofort wieder eingeheizt werden kann. Für den Umzug müssen zuerst 37 Rentiere eingefangen werden, was mehrere Stunden dauert. Makar hat am Vorabend noch seinen Freund Oleg mitgebracht. So machen sich nun fünf Männer und die Hunde an die Arbeit. Die beiden Baloks werden vom Schnee befreit und auf den Schlitten flottgemacht.Your content goes here. Edit or remove this text inline or in the module Content settings. You can also style every aspect of this content in the module Design settings and even apply custom CSS to this text in the module Advanced settings.
Mobiles Heim. Bei der Campverschiebung werden die Rentiere vor den Balok gespannt, und los geht’s.
Voll beladen. Kind und Kegel auf den Schlitten gepackt, das neue Zuhause ist nicht mehr weit.
Vor dem Umzug versammeln sich alle zu einem späten Mittagessen. Dann werden die Rentiere vorgespannt, und los gehts. Fünf Kompositionen und der Rest der gut 200-köpfigen Rentierherde ziehen durch unberührten Schnee. Bald taucht die langsam untergehende Sonne die sanfte Landschaft in ein warmes Licht. Holger und ich jauchzen innerlich vor Begeisterung: Diese Bilder sind Realität und kein Traum. Trotz Kälte sind wir völlig entspannt und voller Vertrauen in die umsichtige Betreuung durch unsere Nomadenfamilie.
An einer Stelle, die Spiridon ausgewählt hat, hält der ganze Tross an, und das neue Camp wird in kurzer Zeit wieder errichtet. Die Schlitten mit ihren Aufbauten werden positioniert, die Vorbauten angehängt, Schnee an die Baloks geschaufelt, der Ofen gefüttert und Tee gekocht.
Drinnen im Balok quillt der Brotteig, der am Vormittag angesetzt wurde, schon über. Das Brot wird nicht in einem Ofen, sondern im Topf auf dem Herd gebacken. Einen Teil des Teigs zwackt Irina ab und frittiert Berliner ohne Füllung. Als Vorspeise gibt es heute Stroganina. Makar und Mikhail haben draussen vier gefrorene Fische von den Schuppen befreit. Mit einem scharfen, grossen Messer werden nun dünne Scheiben vom Fisch geschnitten, die sich wie Hobelspäne kringeln. Zwei der Fische haben noch orangefarbenen Rogen im Bauch. Holger hat die Idee, die Berliner mit dem Rogen zu füllen, und schon ist eine neue Delikatesse erfunden: Berliner mit Kaviarfüllung. Als zweiten Gang gibt es «Hörnli» mit geschnetzeltem Rentierfleisch. Nach dem Nachtessen holt Spiridon erstmals eine Flasche Spiritus aus dem Vorratskasten. Zuerst wird den Geistern gedankt für die gelungene Fahrt, und dann werden sie um einen glücklichen Aufenthalt an diesem Standplatz gebeten. In dieser Nacht ist die Färbung des Nachthimmels besonders eindrücklich. Nicht nur auf der Seite des Sonnenuntergangs, sondern fast rundherum ist der Horizont orangegelb.
Bald taucht die untergehende Sonne die sanfte Landschaft in ein warmes Licht. Holger und ich jauchzen innerlich vor Begeisterung.
Rentiere. Sie können nie vollständig gezähmt werden, die Tiere der Nomaden sind nur halb domestiziert.
Festvorbereitungen. Am Tag vor dem Fest ist noch ein letztes Rentierschlittentraining angesagt. Neben den Männern trainiert heute auch Dascha. Irina richtet währenddessen die Festtagskleider für die ganze Familie her. Diese bestehen in erster Linie aus Rentier- und Fuchsfellen. Anschliessend häutet sie einen schneeweissen Polarfuchs, den Oleg am Vortag mit einer Falle erlegt hat, und spannt das Fell zum Trocknen auf ein vorgefertigtes Holzbrett. Es sei nicht so gute Qualität, da der Winter für hiesige Verhältnisse zu mild war. Der Kadaver hat wenig Fleisch und kein Fett und wird sowieso nicht gegessen. Bei den Dolganen herrscht der Glaube, dass sie sonst keine Füchse mehr fangen. Auch die Hunde rühren das Fleisch wider Erwarten nicht an.
Gegen Abend fahren wir alle zusammen nach Syndassko. Spiridon hat die für die Rennen vorgesehenen Rentiere an seinen Schlitten gebunden. Cuba wird in ein Rentierfell gepackt. Die grossen Hunde versuchen, mit dem Schlitten Schritt zu halten. So gleiten wir über die vom letzten Sonnenlicht glitzernden, nicht enden wollende Schneefläche.
Jubiläum. Am Eröffnungsakt im Gemeindehaus dürfen Holger und ich in der zweiten Reihe sitzen, direkt hinter den Ehrengästen und Offiziellen. Weil Syndassko sein 85-jähriges Bestehen feiert, sind die junge, attraktive Kulturministerin aus Krasnojarsk, ihr Begleittross und einige Ärzte mit dem Helikopter eingeflogen. Das Fest ist eine ideale Gelegenheit, den sonst weit verstreut lebenden Nomaden medizinische Betreuung anzubieten und Impfkampagnen durchzuführen. Den Grossteil der Veranstaltung nehmen Reden und die Übergabe von Dankesurkunden ein. Dies ist ein aus der Sowjetzeit stammender Brauch, bei dem Menschen, die etwas für die Gemeinschaft geleistet haben, öffentliche Anerkennung finden.
Dann begibt man sich gemeinsam zum Festplatz, angeführt von der jungen Elvira, die auf einem Rentier reitet und von ihrem Grossvater geführt wird. Dahinter marschieren drei Frauen mit Fahnen von Syndassko, der Region Krasnojarsk und Russlands. Das Festgelände besteht aus einem Siegerpodest und mehreren Baloks sowie einem tipiähnlichen Zelt, dem Chum, in denen gratis lokale Speisen angeboten werden. Die Festgemeinschaft wird aufgefordert, sich zu verköstigen und eine Bewertung abzugeben, weil auch hier den besten Köchinnen ein Preis lockt. Die Wettbewerbe beginnen mit der schönsten Kleidung der Kategorien Männer, Frauen und Kinder.
Für das Rennen der Männer werden die Dreier-Rentierschlitten-Gespanne in Position gebracht. «Unser» Mikhail startet als Letzter. Ich habe den Eindruck, dass es sich hier um eine geschickte Strategie handelt, um dem chaotischen Start auszuweichen. Das Rennen geht über knapp 15 Kilometer. Nach einer halben Stunde gibt es einen dramatischen Zieleinlauf. Drei Schlitten kämpfen um den Sieg. Kurz vor dem Ziel wird der mehrmalige Sieger auf den dritten Platz verwiesen. Der Gewinner trägt die Nummer 6: Es ist Mikhail! Sogleich wird er von Freunden und Verwandten umringt und bejubelt. Noch völlig ausser Atem kann er es kaum fassen. Er erhält einen Geldpreis von 300 000 Rubel – das Äquivalent für einen Buran oder 100 Rentiere.
Feststimmung. Während Mikhail das Schlittenrennen der Männer gewinnt, geht die Trophäe der Frauen an eine andere Familie. Freude herrscht trotzdem.
Weniger Glück hat Dascha. Beim Rennen der Frauen verläuft der Start für sie frustrierend. Ihre Rentiere laufen in die falsche Richtung und sind nicht dazu zu bewegen, umzukehren, worauf sie aufgibt. Dauernd läuft irgendwo ein Wettkampf, so dass wir gar nicht überall dabei sein können. Beeindruckt sind wir auch von den Mädchen, die sich im Lassowerfen messen. Aus einer Distanz von fünf Metern werfen sie das Lasso auf ein an einem Holzpfosten festgemachtes Rentiergeweih. Eines trifft souverän dreimal hintereinander.
Für Spiridons Familie war das Fest ein voller Erfolg. Alle sind sich einig, dass wir ihnen Glück gebracht haben. Am anderen Morgen nehmen wir Abschied. Wieder durften wir Menschen in dieser unendlichen Landschaft kennenlernen, die uns sehr berührt. Es war sicher nicht das letzte Mal, dass wir Nomaden im hohen Norden besucht haben.
Dolganen als Nomaden
Im Jahr 2010 gab es gemäss einer Volkszählung 7011 Dolganen. Ein Grossteil davon lebt zwar noch als Jäger und von der Landwirtschaft, ist aber inzwischen sesshaft. Das Überleben als Rentiernomaden ist hier heutzutage nicht einfach. Wegen der wilden Rentiere werden die halb domestizierten Herden jedes Jahr kleiner. Aufgrund des Klimawandels und der dadurch veränderten Witterung und Vegetation sind die Routen der zahlreichen wilden Herden von der Taimyrhalbinsel nicht mehr vorhersehbar. Sobald die halb domestizierten Rentiere mit einer solchen Herde in Kontakt kommen, schliessen sich einige ihren wilden Artgenossen an und sind dann für die Nomaden verloren. Denn aus wilden Rentieren kann man keine halbwilden machen. Um die eigenen Herden wieder zu vergrössern, braucht es neben eigenem Nachwuchs auch Importe von halbwilden Tieren aus anderen Regionen.
Auch die für ihre Belange wenig Verständnis aufbringende Politik bringt die Rentiernomaden in Bedrängnis. Sie werden nicht im gleichen Umfang unterstützt wie zu Sowjetzeiten und auch nicht wie in der Nachbarrepublik Jakutien, die nur 150 Kilometer entfernt liegt. Spiridons Herde zählt knapp 200 Rens und ist damit eher klein. Irina und Spiridon beziehen daneben eine Pension, womit ihre Familie über etwas Geld verfügt. Irina ärgert sich aber darüber, dass es «Plastikgeld» ist, das sie nur in Chatanga abheben kann, was einen Zeitaufwand von vier Tagen bedeutet. Ausserhalb von Chatanga gibt es weder ein Geldinstitut noch die Möglichkeit, mit Kreditkarte zu bezahlen, von Internetzugang ganz zu schweigen. Dies alles führt dazu, dass die Dolganen in der Region Krasnojarsk nur noch schwer als Rentiernomaden überleben können. Dascha wird deshalb zusammen mit Mann und Kindern bald nach Jakutien auswandern, wo sie als Rentierhirten angeheuert haben. Die Lösung ist einerseits traurig, aber gleichzeitig eine Chance. So können sie ihr Nomadenleben und ihre Kultur weiterführen, verdienen etwas Geld und bleiben dennoch in Besuchsdistanz zu ihrer Familie.
Die Autoren Sylvia Furrer (Text) und Holger Hoffmann (Fotos) haben seit 1977 gemeinsam 59 Länder ausserhalb Europas bereist. In den letzten Jahren haben sie sich vermehrt mit traditionellen Kulturen auseinandergesetzt und immer wieder private «Forschungsreisen» in abgelegene Gebiete gemacht. Im Globetrotter-Magazin sind von ihnen bereits mehrere Reportagen erschienen.
Die Reportage erschien erstmals im Globetrotter-Magazin Schweiz. Verpasse keine Ausgabe mehr und abonniere das Globetrotter-Magazin hier.