Nur wenige Allrad-Enthusiasten haben eine offene Ladefläche im Hinterkopf, wenn sie an Matschlöcher, unwegsame Wildnis und weglose Strecken denken. Dabei hat der Pickup eigentlich nur Vorteile, die ihn sogar noch besser als Alltagsauto geeignet erscheinen lassen. Eine Liebeserklärung an Step- und Fleetside.
Pickup-Truck – Hand hoch, wer bei diesem Begriff nicht sofort eine ländliche Szenerie mit einem endlos langen Weidezaun vor dem inneren Auge hat. Pickup-Truck – damit assoziiert man Macho-Namen wie Silverado, Super-Duty oder RAM. Pickup-Truck – das vielleicht klischeebehaftetste Fahrzeug, das es überhaupt gibt. Wer sowas in Europa fährt, der ist in den Augen vieler schon zumindest mal verdächtig, irgendwelchen US-Südstaaten-Idealen anzuhängen. Vorne ein Cockpit und hinten so viel offene Fläche, auf der jegliche Ladung dem Wetter schutzlos ausgeliefert ist – das kann doch hierzulande gar nicht sinnvoll sein, wo es statistisch an 158 von 365 Tagen regnet. Doch wer so argumentiert, vergisst nicht nur, dass es auch beim Pickup diverse Mittel und Wege gibt, die Ladung vor Regen zu schützen – und er ignoriert auch, dass nach dieser Logik sich niemand ein Cabriolet zulegen dürfte. Fakt ist jedoch, Pickups sind unglaublich praktisch und haben auch als Offroader einige Vorteile, die viele gar nicht auf dem Schirm haben. Der folgende Artikel ist deshalb nicht mehr und nicht weniger als eine Liebeserklärung an kleine Führerhäuser und grosse Ladeflächen.
Entwicklungsgebiet Europa
Schon vor einem Jahr, anlässlich der 2015er IAA schrieben wir, dass Pickups – global gesehen – eine wahre Goldader sind, eine echte Gelddruckmaschine, um genauer zu sein. Doch woran liegt es, dass Pickups nicht nur in der Schweiz, sondern in praktisch allen europäischen Ländern ein eher seltener Anblick sind, selbst in einer Welt, in der Geländewagen bzw. SUVs immer mehr Verbreitung finden?
Es mag daran liegen, dass der europäische Mensch ein ausgesprochener Liebhaber der Kompromisse ist, Geländegängigkeit ja, aber bitte nur mit einem Auto, dass alle seine Passagiere mit dem gleichen Luxus über eine Autobahn transportiert, wie eine Limousine der oberen Mittelklasse.
Der Pickup, zumindest in seiner Ursprungsform, also Einzelkabine für zwei oder drei Personen und eine riesige Ladefläche, erfordert jedoch Kompromisslosigkeit. Wer sowas fährt, drückt damit ganz klar aus, dass er sich dafür entschieden hat, die praktischen Seiten eines Fahrzeugs in den Vordergrund zu rücken – Ofenholztransport statt Kofferraumteppich, Ladevolumen statt Rückbank-Kopffreiheit. Vom eher rustikalen Fahrkomfort, der aus der meist verbauten hinteren Starrachse samt Blattfedern resultiert, ganz zu schweigen – aber auch das ist kompromisslos, denn eine Einzelradaufhängung würde nun mal den Platz auf der Ladefläche reduzieren. Damit ist der klassische Pickup-Fahrer de facto eine Evolution des Kombi-Käufers, bloss eher in der „Jeans+Stiefel“-Variante.
Und obschon es praktisch keinen der hierzulande angebotenen Pickups nur mit Einzelkabine, sondern immer auch mit 1,5 bzw. Doppelkabine zu kaufen gibt, bleibt diese Kompromisslosigkeit auch bei diesen „domestizierten“ Pickups bestehen.
Es werden immer mehr
Dabei sollte man jedoch nicht den Fehler machen, zu glauben, dass Pickups weiterhin ein eher stiefmütterliches Dasein fristen werden. Das zeigt allein schon ein Blick in die Vergangenheit:
- Ende der 70er stellte VW den Caddy vor – kaum mehr als ein Golf-1 mit offener Ladefläche
- Im gleichen Jahr, 1979, bringt Peugeot seinen 504 Pickup – mit ähnlichem Konzept
- Im Lauf der 80er kommen die ersten Toyota Hilux der dritten Generation nach Europa – wenngleich ebenfalls noch wenig nach Geländewagen aussehend
- In den späten 80ern und frühen 90ern öffnet sich der Markt langsam. Mit dem Hilux YN58 und dem Nissan D/W21 finden die ersten „richtigen“ Gelände-Pickups den Weg auf Europas Strassen
- Im gleichen Zeitraum baut VW mit dem Hilux-Lizenzbau Taro einen der ersten europäischen Gelände-Pickups
Und heute? Heute ist die Modellpalette an Pickups verglichen mit diesen wenigen Modellen vor 20 Jahren geradezu gigantisch:
- Ford Ranger
- Toyota Hilux
- VW Amarok
- Nissan Navara
- Mitsubishi L200
- Isuzu D-Max (Kooperation mit Mazda)
- Fiat Fullback
um nur einige zu nennen. Da wundert es nicht, dass selbst Mercedes mittlerweile eingesehen hat, dass sich mit der „Pritsche“ Geld verdienen lässt und mit der X-Klasse im Midsize-Segment mitmischen will. Denn die Stuttgarter haben eines ganz richtig erkannt, der heutige Pickup ist zwar immer noch kompromisslos, aber er kann dennoch so angepasst werden, dass er auch einen luxusbetontere Käuferschicht anspricht. Und zufällig sind das die, die morgens die Kinder zur Schule bringen müssen, aber ebenso auch sperrige Einkäufe transportieren wollen und eben im Zweifelsfall auch mal durch den Matsch wollen.
Man kann also durch die jüngsten Ereignisse sowie den generellen Trend zum höherliegenden Fahrzeug in Form des SUV durchaus sicher voraussagen, dass der Pickup in Zukunft eine grössere Marktnische haben wird, als es in der Vergangenheit der Fall war. Und das ist auch gut so, denn diese Fahrzeugform hat einige Besonderheiten, die es bis dato nur bei selten in Privatbesitz zu findenden Vehikeln wie dem Unimog oder den Pritschen-Varianten von Sprinter und Co. zu finden gab.
Die totale Freiheit
Und genau diese Besonderheiten, die fast schon einem Spagat gleichen, ermöglicht ein normaler Pickup – vielleicht sogar besser, als jeder dedizierte Geländewagen nach klassischem Verständnis. Denn ob nun Land Cruiser, G oder Patrol, im Vergleich zur Fahrzeuggrösse können die Ladevolumina oft nicht überzeugen. Und selbst wenn die Rückbank umgeklappt wird, bleibt das Problem, dass man für stark schmutzende Ladungen wie Brennholz und Co. einen Anhänger verwenden sollte – denn auch Geländewagen kommen heute serienmässig meist mit klassisch-schmutzempfindlichen Veloursteppich und den will keiner reinigen müssen.
Bloss ist ein Anhänger gleich in mehreren Punkten ein Rückschritt, er erfordert einen zusätzlichen Stellplatz, kostet einen neben dem Fahrzeug noch zusätzliche Steuern und ist nicht wirklich für grobes Gelände geeignet – und das nicht nur, weil ein solches Gespann ziemlich lang ist.
Beim Pickup stellt sich eine solche Frage erst gar nicht. Die Klappbox mit den Wocheneinkäufen aus der Migros findet auf der Ladefläche ebenso Platz wie ein Raummeter ofenfertig geschnittenes Brennholz – samt der dazu notwendigen Motorsäge. Und wenn was schmutzig wird, richtet man einfach den Wasserschlauch auf die Ladefläche und nach einer Minute ist alles wieder gut. Zudem lässt sich dieser ganze Wust an Dingen auch noch ohne jeglichen Komfortverlust transportieren – die Ladefläche ist ja fester Bestandteil des Fahrzeugs und selbst bei einem klassisch-europäischen Doppelkabiner-Pickup immer noch wesentlich geräumiger als der Kofferraum eines jeden Geländewagens oder SUV.
Der Isuzu D-Max hat beispielsweise ein Ladeflächenvolumen von 779 Litern – wohlgemerkt nur bis zur Oberkante der Prischtenumrandung. Wo jedoch bei jedem anderen Auto das Fahrzeugdach die natürliche Grenze darstellt, gibt es die beim Pickup schlicht nicht – man kann also Dinge mit wesentlich grösseren Volumina laden, als die reine Ladefläche. Das wird schon dann nützlich, wenn es nur darum geht, Möbel zu kaufen oder andere sperrige Dinge von A nach B zu transportieren. Beim Pickup lädt man diese auf, sichert sie und fährt los. Keine Probleme mit Kofferraumklappen, die dann zwangsweise offenbleiben müssen oder irgendwelchen Innenraum-Verkleidungen, die einen Zentimeter zu breit sind für das sperrige Ladegut.
Naturgemässe Nachteile
Natürlich sollen all diese Vorteile nicht überdecken, dass auch der Pickup kein perfektes Auto ist, denn (wie jedes Fahrzeug) hat er auch Nachteile. Und das fängt in aller Regel beim Fahrkomfort an. Denn wenn die Ladefläche leer ist, liegen auf der Hinterachse nur wenige Kilo Blech und das sorgt in Verbindung mit den Blattfedern, die für mehrere hundert Kilo ausgelegt und dementsprechend steif sind, sowie den hohen ungefederten Massen der Starrachse naturgemäss dafür, dass ein leerer Pickup hintenrum holpert und poltert. Dass die winterliche Traktion unter dieser mangelnden Belastung leiden kann, sollte ebenfalls nicht verwundern. Allerdings sollten ja auch Offroader trotz der hierzulande nicht vorhandenen Pflicht generell mit Winterreifen und nicht den typischerweise verwendeten Ganzjahresgummis ausgestattet werden und nicht umsonst bietet etwa Nissan seine Snow-Experience an, um auch mit Pickups das Fahren bei Eis und Schnee zu erlernen. Und ein Satz Winter-Geländereifen gibt dem Pickup schon viel Traktion zurück, selbst wenn er leer ist. Wer dann noch einen Sack Streusalz, eine Bauwanne voll Sand oder ähnlich gewichtige Dinge auf die Ladefläche packt, hat praktisch gar keine Probleme mehr, mit der nicht auch andere Fahrzeuge zu kämpfen hätten – abgesehen davon, dass die Entwicklung von Antischlupfsystemen auch am Pickup nicht vorbeigegangen ist.
Und zum oft erwähnten Thema Spritverbrauch kann man nur sagen: Ob nun ein Gelände-Kastenwagen mit bis über die Hinterachse gezogenem, geschlossenem Fahrgastraum oder ein Pickup mit leichtem Hinterteil und einigen Kilo Sand darauf – das macht kaum einen Unterschied. Zudem könnte man, wenn man die Verbrauchsreduzierung auf die Spitze treiben möchte, sogar dem Pickup noch statt der wenig windschlüpfrigen Heckklappe ein sogenanntes Mesh Tailgate spendieren. Das ersetzt die Heckklappe durch ein grobmaschiges Netz, das dem Fahrtwind praktisch keinen Widerstand entgegensetzt und somit auch den Kraftstoffverbrauch senkt.
Natürlich wird jeder Pickup-Skeptiker auch das Thema des offenen Laderaumes ansprechen. Freilich ist es eine Tatsache, dass die offene Pritsche in keinster Weise vor den Unbilden der Witterung oder Langfingern schützt. Doch auch hier ermöglicht die Flexibilität des Pickups, das Fahrzeug entsprechend anzupassen:
- Für die meisten gängigen Pickups existieren flache Laderaumabdeckungen, oft sogar abschliessbar und wo nicht, kann auch eine entsprechende Plane Regenschutz herstellen.
- Hardtop-Aufbauten ermöglichen es, den Pickup mit einem festen Aufbau in gleiche Höhe wie die Fahrgastzelle auszurüsten – im Gegensatz zum normalen Geländewagen können diese aber auch mit wenigen Handgriffen demontiert werden.
- Der Zubehörhandel bietet eine grosse Bandbreite an Laderaum-Boxen unterschiedlicher Grössen und Materialien. Die meisten davon werden fest mit der Ladefläche verbunden, sind abschliessbar und schützen damit den Inhalt sowohl vor dem Wetter, als auch Dieben.
Und nicht zuletzt haben 1½- und Doppelkabiner natürlich auch noch die Option, die jeder Besitzer eines Viertürers hat und gerne wahrnimmt, nämlich einfach Dinge auf die Rückbank zu legen.
Besser im Gelände (?)
Jetzt folgt ein Punkt, über den sich nicht jeder in der Offroader-Gemeinde einig sein wird, aber das macht nichts, denn würden alle die gleichen Geländewagen lieben, wäre es um die Vielfalt unserer Leidenschaft geschehen.
Prinzipiell ist ein Pickup, so er denn mit ähnlichen Features wie ein „normaler“ Geländewagen ausgestattet ist, sogar besser geeignet, um sich über unwegsames Gelände zu kämpfen – und dort auch noch wesentlich praktischer. Und zwar aus gleich mehreren Gründen:
- Bei praktisch keinem einzigen Gelände-Pickup kommt etwas anderes als ein Leiterrahmen zum Einsatz – bei SUVs muss man danach schon explizit suchen. So wäre beispielsweise ein rostiger 90er-Jahre VW Taro dem SUV Touareg aus gleichem Hause allein schon deshalb im Gelände überlegen.
- Eine Starrachse ist durch die gleichbleibende Bodenfreiheit sowie die bessere Verschränkung rein physikalisch besser für unebene Untergründe geeignet, als jede andere Aufhängungsform.
- Die Ladefläche macht es möglich, eine riesige Palette an nützlichen Offroad-Tools wie Winden, Sandbleche usw. mitzuführen, ohne dass dabei, wie bei einem Dachgepäckträger, der Schwerpunkt des Fahrzeugs erhöht wird.
- Dadurch, dass Motorraum/Fahrgastzelle sowie die Pritsche voneinander getrennte Elemente sind und kein durchgängiges „Blechpaket“ wie bei einem klassischen Geländewagen, kann der Rahmen sich besser verwinden – was zugegebenermassen bei der teilweise grösseren Länge eines Pickups auch notwendig ist.
Zudem hat der Pickup im Gelände auch noch einige andere praktische Eigenschaften für eine bestimmte Klientel. Nämlich die der Jäger. Was hat der Waidmann nicht schon an Geländewagen-Zubehör gesehen. Wildwannen für den Kofferraum, Gitterkisten-Konstruktionen, die sich auf der Anhängerkupplung fixieren lassen und sogar Rammschutzbügel, die sich über ein Scharnier nach vorne kippen lassen – alles, um ein Stück Wild aus dem Revier zu befördern. Was der gemeine Fussgänger denkt, wenn ihm abends um zehn ein Land Cruiser entgegenkommt, auf dessen Frontschutzbügel eine frisch erlegte Wildsau liegt, darf man sich ausmalen.
Beim Pickup hingegen wird die Ladefläche im Zweifelsfall nicht nur zum mobilen Ansitz, der teilweise Hochsitzkonstruktionen überflüssig macht, sondern jegliches erlegte Wild findet auf der Ladefläche überreichlich Platz – ohne Zusatzkonstruktion.
Der Lifestyle-Transporter
Und heute befinden wir uns an einem Punkt, an dem alles zusammenkommt. Nämlich dadurch, dass die Märkte in Europa für den Pickup grösser wurden, erkannten auch die Hersteller, dass es möglich ist, grössere Gewinnspannen zu erzielen – der Pickup von heute ist zwar immer noch kompromisslos, aber nicht mehr unkomfortabel. Je nach Kabinenform macht es heute keinerlei Unterschied mehr, ob man die Kinder auf der Rückbank eines SUV, eines Kombis oder eines Pickups festschnallt – bloss ist hinten immer noch eine in der Höhe unbegrenzte Ladefläche vorhanden:
- Für Outdoor-Freunde wird der Pickup bei Regenwetter zur trockenen Fläche, um ein Zelt aufzubauen.
- Für Weltenbummler existieren Wohnkabinen-Aufbauten, in denen es sich so komfortabel lebt wie im Wohnmobil oder –wagen – zudem macht die Geländegängigkeit es möglich, sein Lager an Plätzen jenseits ausgetretener Pfade aufzuschlagen.
- Für Mountainbiker gibt es die Möglichkeit, nicht nur an praktisch jeden Startpunkt im unwegsamsten Terrain zu gelangen, sondern die hinterher verschmutzten Velos auch noch zurücktransportieren zu können, ohne Teppich und Co. zu verschmutzen oder auf Dachkonstruktionen vertrauen zu müssen.
Und das Beste daran ist, im Gegensatz zu praktisch jeder anderen Fahrzeugform ist das beim Pickup ohne grössere Vorbereitungen möglich. Auf die Ladefläche packen und los geht es. Keine Installation von Heck- oder Dachgepäckträgern. Kein Kofferraum-Tetris, damit auch alles so passt, dass die Klappe noch schliesst.
Damit ist der Pickup sogar ein echtes Kind unserer Zeit, in der viele Menschen immer vielfältigere Hobbies pflegen, immer mehr flexibel sind und immer mehr Freiheit möchten – der Lastesel ist heute ein Lifestyle-Transporter, denn er ermöglich all das ohne Kompromisse eingehen zu müssen, weil der Pickup (in schlammfreiem Zustand) durch seine dem Zeitgeist angepasste Optik auch noch vor jedem feinen Restaurant einen genauso guten Auftritt macht, wie ein SUV.
Fazit
Der Pickup ist viel mehr als ein Lastesel. Er ist buchstäblich so praktisch wie das weltberühmte Schweizer Taschenmesser. Denn er verbindet alle Vorteile eines SUVs mit denen eines Kombis, würzt sie mit der Geländegängigkeit eines reinrassigen Offroaders und ergänzt zudem noch eine, von keinen Säulen und Decken begrenzte Ladekapazität, die sich in der Stadt genauso zuhause fühlt wie auf einer einsamen Alp, zu der kein asphaltierter Weg führt. Er ist kompromisslos – kompromisslos vielseitig.