Land der Wasserfälle
Der erste Stopp auf unserer Tour, der Wasserfall Seljalandsfoss, ernüchtert uns ein wenig. Anders, als wir es erwartet haben, sind die Sehenswürdigkeiten in Island gut ausgebaut und auch gut besucht. Das bedeutet aber nicht, dass man keine Naturbilder ohne menschliche Störfaktoren machen kann. Es heisst nur, dass man mit einem leidenschaftlichen Landschaftsfotografen als Freund ungefähr dreimal so lange braucht wie alle anderen, da man für jedes Bild eine Lücke zwischen zwei asiatischen Familien abwarten muss.
Hinter dem Wasservorhang. Island ist das Land der Wasserfälle: Es soll hier über 10 000 geben. Einer davon ist der Seljalandsfoss im Süden. Seine Besonderheit: Er lässt Besucher hinter die Kulissen blicken.
Das einzige Problem mit Wasserfällen: Da ist ein Haufen Wasser im Spiel. Das Wasser auf dem Gesicht fühlt sich die ersten zehn Minuten noch angenehm an. Dann blicke ich an mir hinunter und bemerke, dass ich komplett durchnässt bin. Aber ich will ja Nils’ Foto nicht ruinieren, also bleibe ich tapfer stehen… Irgendwann fange ich an, laut den Song «Hallelujah» von Leonard Cohen gegen das Getöse des Wasserfalls anzusingen. Das teilt zwar nicht das Wasser vor mir, aber lustig ist es trotzdem – besonders als ich irgendwann bemerke, dass kaum ein paar Meter entfernt zwei Jungs stehen und entweder meinen Gesang oder den Wasserfall unglaublich interessant finden.
Es ist bereits früher Abend, als wir die Felsen von Dyrhólaey erreichen. Nils überlässt mir seine Kamera, und ich lege mich ins Zeug. Auf den schroff abfallenden Klippen hat man eine wunderbare Aussicht auf das Meer und die eindrückliche Küste. Nach ein paar Bildern wird mir bewusst, dass mich der Wind beinahe einen ganzen Schritt näher zum Abgrund geschoben hat. Auch Nils wagt sich immer wieder abenteuerlich nah an die Kante heran, um die unzähligen Papageientaucher zu fotografieren, die hier in den steilen Klippen nisten.
Wal, Wrack und Wellen
Es ist bereits relativ spät, als das Zelt endlich steht und wir zu der Stelle aufbrechen, wo vor Jahren ein Flugzeug auf den Strand von Sólheimasandur abgestürzt ist. Wir haben Bilder davon im Internet gesehen. Aber ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass dieses Flugzeugwrack, sollte es jemals existiert haben, von verrückten Fotografen oder Umweltschützern weggetragen wurde – oder dann so viel Ähnlichkeit mit einem Felsen hat, dass wir es im Licht der langsam untergehenden Sonne (ja, um halb elf Uhr nachts) schlicht mit einem verwechselt haben. Denn wir entdecken weit und breit kein Flugzeugwrack. Was wir stattdessen finden – seit Stunden wandernd und suchend und langsam verzweifelnd –, ist ein Teil eines riesigen Walskeletts. Auch ein tolles Motiv, aber im Dämmerlicht fast gruselig.
Wal statt Wrack. Das berühmte Flugzeugwrack der US Navy am Strand von Sólheimasandur ist nicht so einfach zu finden. Ein Walskelett ist aber auch nicht schlecht.
Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass dieses Flugzeugwrack von verrückten Fotografen oder Umweltschützern weggetragen wurde.
Nach Harry Potter und diversen Abenteuerbüchern hatte ich wohl eine sehr romantische Vorstellung vom Zelten in freier Wildbahn. Aber ohne ein Zauberzelt, das sich selbst auf- und wieder abbaut, und lediglich mit Haferschleim zum Frühstück kostet uns das In-die-Gänge-Kommen nach der ersten Nacht viel Zeit. Immerhin strahlt die Sonne auf uns herab, sodass ich, wenn auch nur für eine Viertelstunde, doch noch meine kurze Hose anziehen kann.
Es ist bereits Mittag, als wir bei den quadratischen Felsformationen von Reynisdrangar ankommen. Die Wellen dort sind gigantisch. Nils kann ein Lied davon singen: Ich glaube, seine Schuhe sind erst Tage später wieder richtig trocken geworden. Nachdem ich auch noch den letzten Felsbrocken für mich erkundet habe – Nils ist natürlich mit Fotografieren beschäftigt –, nutze ich die Zeit und die alles gebende Nachmittagssonne, um am Strand ein kleines Sonnenbad zu nehmen. In Fleecepullover und Softshelljacke, aber trotzdem!
Den Rest des Tages verbringen wir auf der Strasse und bestaunen die zerklüftete, eindrucksvolle Landschaft vom Auto aus. Zu unserer Rechten die riesige Weite einer endlosen schwarzen Lavawüste, die nur hier und da von Moos und Gräsern überwachsen ist. Zu unserer Linken die Ausläufer des isländischen Hochlands, mit Steilklippen, die uns immer wieder einen beeindruckenden Blick auf Gletscher bieten, die hoch oben auf dem Gebirge thronen.
Als wir am Campingplatz ankommen, steht die Sonne bereits gefährlich tief am Horizont. So schnell waren wir wohl noch nie im Zeltaufbauen und Nudelnkochen. Wir beschliessen, noch einen Ausflug zu machen. Der Himmel ist bereits ein einziges orangefarbenes Meer, als wir die Gletscherlagune Jökulsárlón erreichen. Die riesigen Eisstücke im Wasser und am Strand sind ebenso gewaltig wie kalt. Dick eingemummelt werden wir Zeugen davon, wie ein gigantischer Eisberg in zwei Teile zerbricht. Als wäre es ein Film, stehen wir da und schauen und schauen und schauen, bis uns klar wird, dass da gerade tatsächlich eine riesige Welle auf uns zukommt. Wir schnappen unser Kamerazubehör und klettern auf den nächsten Felsen. Wie durch ein Wunder bleiben wir an diesem Abend trocken.
Berge und Brot
Nach zwei Tagen «on the road» lassen wir heute das Auto stehen und erkunden den Skaftafell-Nationalpark zu Fuss. Ein Wanderweg bringt uns hoch ins Gebirge, zum Fuss des mächtigen Gletschers, auf den wir bereits am Tag zuvor immer wieder einen Blick werfen konnten. Bei unserer ersten Pause am Svartifoss-Wasserfall sind wir nur halb so erschöpft wie erwartet, aber nachdem wir diesen hinter uns gelassen haben, wird ziemlich schnell klar, dass das bis hierhin nur der Touristenweg gewesen sein muss und es erst jetzt so richtig losgeht.
Eisige Landschaft. Ausblick auf einen Ausläufer des Vatnajökull-Plateaugletschers im Skaftafell-Nationalpark. Die Strapazen der achtstündigen Wanderung haben sich gelohnt.
Majestätisch. Der Svartifoss, der «schwarze Wasserfall», liegt im Skaftafell-Nationalpark. Die schwarzen Basaltsäulen erinnern an Orgelpfeifen.
Der Ausblick ist wirklich gigantisch! Auf der einen Seite eine weite, einfach leere Ebene ohne Wälder, ohne Dörfer, ohne das geringste Anzeichen menschlicher Anwesenheit. Auf der anderen Seite der Gletscher Vatnajökull inmitten von schneebedeckten Bergen. Wir klettern ein Stück, bis wir schliesslich zu einem Felsvorsprung gelangen, der direkt über die Gletschermoräne ragt.
Einfach dazusitzen, inmitten dieser Landschaft, und diese Stille auf sich wirken zu lassen… Dieses Gefühl, zu zweit ganz alleine auf der Welt zu sein, keinen anderen Menschen zu sehen, nicht einmal von Weitem, nicht einmal als Lichtpunkt am Horizont, nichts zu hören ausser das ferne Rauschen des Wassers unter der Moräne.
Nach unserem insgesamt achtstündigen Gewaltmarsch mit lediglich ein wenig Trockenbrot und einem Knoppers im Magen kann man sich bestimmt vorstellen, wie es um Nils’ Appetit bestellt ist. Wir haben natürlich noch mehr vom Trockenbrot im Auto, aber ich denke, ich bin eine tolle Freundin und koche meinem Freund stattdessen eine riesige Schüssel Nudeln mit Butter auf unserem Campingkocher. Zu meiner Verteidigung kann ich sagen: Der Salzstreuer ist brandneu. Resultat: eine riesige Portion Salz mit viel Butter und ein paar Nudeln drin. Und es ist, als würde es bei jedem Bissen mehr werden. Mehr Salz, nicht mehr Nudeln. Ein Gutes hat die Geschichte: Nils hat wohl das erste Mal auf diesem Trip keinen Hunger mehr.
Die Küstenstrasse in Richtung der Ostfjorde führt uns durch die Kleinstadt Höfn, die auf einer Landzunge umgeben von Wasser und Eis liegt. Der Hummer hier gilt als Spezialität und wurde uns im Voraus von mehreren Seiten wärmstens empfohlen. Wir entscheiden uns aber angesichts unseres schmalen Geldbeutels (und der Überdosis Salz in unserem Magen) dann doch für ein paar gewöhnliche Hotdogs mit Fanta.
GoogleMaps gibt uns irgendwann nach Höfn noch fünf Stunden an bis zum Ziel – und da ist es bereits, na ja, relativ spät. Aber so geniessen wir einfach die langsam in der Dämmerung versinkende Landschaft, die immer mehr wie ein Teil Mittelerdes aus «Herr der Ringe» aussieht. Es heisst, Tolkiens Kindermädchen sei aus Island gekommen – wenn sie gut war im Geschichtenerzählen, erklärt das alles.
Romantischer Norden
Da wir gestern noch ordentlich Strecke gemacht haben, befinden wir uns mittlerweile im Norden Islands. Durch den Norden zu fahren, fühlt sich irgendwie magisch an. Den Touristenstrom lassen wir an der Südküste zurück. Nach hier oben verirrt sich kaum jemand. Gut, natürlich sind wir am Dettifoss, einem der mächtigsten Wasserfälle Europas, nicht allein, aber man spürt doch deutlich den Unterschied zu den Wasserfällen im Süden.
Mitternachtssonne. Isländische Sommernächte scheinen endlos – von Mai bis August ist es bis um Mitternacht hell. Gute Voraussetzungen zum Campieren wie hier am See Mývatn.
Die Region rund um den See ist ein einziger Geothermiekessel, was vor allem eines heisst: viel Schwefel. Wir drängen den Brechreiz heldenhaft zurück, während wir über den von Schwefelsalzen verkrusteten Boden von Hverir laufen. Beim Vulkan Krafla machen wir ausnahmsweise mal eine Timelapse (an dieser Stelle könnte ich einen Augenroll-Smiley gut gebrauchen). Damit sie sich lohnt, spazieren wir gleich zweimal um den Vulkan herum, denn so eine Zeitrafferaufnahme kann schon mal gute 45 Minuten dauern.
Um ehrlich zu sein, habe ich mir einen aktiven Vulkan ganz anders vorgestellt. Im ersten Moment ist man beinahe ein wenig enttäuscht, im Krater einen See statt heisser Lava vorzufinden, was natürlich logisch betrachtet ziemlich dumm ist. Abgesehen davon ist die versteinerte, zerklüftete Landschaft absolut beeindruckend. Und überall zwischen den Felsen und den Schwefelkrusten wachsen kleine, weisse Blumen.
Nach einem wundervollen Sonnenuntergang besuchen wir das Mývatn-Naturbad. Wie bei seiner Schwester, der Blue Lagoon, kommt das Wasser von einem Geothermiekraftwerk und hat immer noch eine Temperatur von 36 bis 40 Grad Celsius. Wer die Zeit hat, sollte unbedingt zur hiesigen Lagune im Norden fahren, denn vor der Blue Lagoon an der Südküste steht man bereits um acht Uhr morgens in einer mehrere Hundert Köpfe langen Schlange.
Überall am Rande des weitläufigen Bassins stehen kleine Laternen. Ausserhalb des Wassers fühlt es sich an wie drei Grad Celsius – ich sterbe fast auf dem Weg von der Dusche ins Becken. Der Dampf wabert über das Wasser, das selbst milchig weiss ist. Man hat das Gefühl, ein mystisches Geschöpf zu sein, das durch die Nebelschwaden in einem verwunschenen See dahingleitet.
Nach langer Zeit sind wir wieder einmal vollkommen aufgewärmt. Es ist bereits halb ein Uhr nachts, als wir vom Bad zurück zum Campingplatz kommen. Und was soll ich sagen – Nils hat Hunger. Wir machen also die Küche ausfindig, nur um festzustellen, dass sie erstens nur bis Mitternacht benutzt werden soll und es zweitens, selbst wenn man sich entschliesst, diese Bitte zu ignorieren, in dieser Küche kein Licht gibt.
Aber wofür hat man denn Handys sonst, als um mit der Taschenlampenfunktion sein Essen zu beleuchten? Ich übernehme also die ehrenhafte Aufgabe, mich hinzusetzen und mein Handy auf den Tisch vor mir und auf Nils’ Hände zu halten. Als das Essen dann fertig ist, basteln wir uns aus meinem Handy und einem Stückchen Küchenpapier eine kleine Tischlampe und geniessen unsere Würstchen mit Bohnen bei romantischem Handyschein.
Riesen der Meere
Früh am nächsten Morgen lehnen wir uns – gefangen zwischen gespannter Erwartung und absoluter Müdigkeit – über die Reling des Segelboots, das uns vom Hafen in Húsavík hinaus aufs Meer und in die «Walbucht» bringt. Man glaubt nicht wirklich daran, dass etwas passiert, bis der Erste schreit: «nine o’clock!» und die gesamte Mannschaft auf die linke Seite stürzt, um einen Wal zu erspähen.
Tatsächlich haben wir viel Glück an diesem Morgen: Nicht nur ist es ungewöhnlich warm und windstill – wie gut, dass ich extra dicke Handschuhe gekauft habe –, wir sehen auch einen Buckelwal keine zehn Meter von unserem Boot entfernt! Und er bleibt uns den gesamten Trip über treu und taucht immer wieder in unserer Nähe auf und wieder ab. Und wir an Bord hasten immer eifrig hinterher: von neun Uhr nach ein Uhr nach fünf Uhr. Obwohl man ja doch einiges über die Konstruktionsweise solcher Boote weiss, hat man unweigerlich die Szene aus «Fluch der Karibik» im Kopf, in der Captain Jack Sparrow sein Schiff zum Kentern bringt, indem er die gesamte Crew von einer Seite des Decks zur anderen jagt.
Ein wenig später als erwartet (da ich bei einer Pinkelpause meine Wanderschuhe habe stehen lassen und wir nochmal umkehren mussten, um sie zu holen), aber immerhin noch bei Tageslicht kommen wir zum Goðafoss, was so viel bedeutet wie «Wasserfall der Götter».
Wasserfall der Götter. Der Legende nach wurden nach der Übernahme des Christentums die letzten heidnischen Götterbilder in den Goðafoss geworfen, daher der Name.
Völlig selbstvergessen steht ein ungefähr 50-jähriger Brite auf dem äussersten Stein im Fluss, das Wasser spritzt ihm die Waden hoch. Fasziniert erkennen wir, dass er einen Zeichenblock im Arm hält und mit raschen, aber präzisen Bewegungen die Szenerie mit Bleistift festhält. Als er unsere Blicke bemerkt, lächelt er zurück und präsentiert schüchtern sein Werk. «Komm her», winkt er Nils heran. «Das ist der beste Ort, um zu fotografieren.» Mit diesen Worten überlässt er uns seinen Stein. Wir lassen uns nicht zweimal bitten und freuen uns über die gelungenen Aufnahmen.
Disco im Norden
Nach fünf Tagen auf der Strasse ist unser Auto mittlerweile eine einzige Müllhalde. Sollte man in die Verlegenheit geraten, etwas Bestimmtes zu suchen, wie das Kamerastativ oder frische Socken, könnte das in einer 20-minütigen Ausgrabung enden. Ich fasse mir also ein Herz und beschliesse, unseren Wagen zu entrümpeln und wieder aufzuräumen. Es ist erstaunlich, wie viel man in einen Suzuki Swift packen kann!
Mit einem aufgeräumten, systematisch gepackten und zumindest im Innenraum sauberen Auto brechen wir am sechsten Tag auf, um die zweitgrösste Stadt Islands zu erkunden: Akureyri. Charmant, das beschreibt sie wohl am besten. Sehr viele kleine Häuser, kleine Läden, breite, gepflasterte Fussgängerwege, immer wieder zwischen den Häusern hindurch der Blick aufs Meer und trotz den vielen Menschen sehr viel Platz und eine gewisse Ruhe.
Nach jeder Menge Hotdogs und einem Becher Eis für jeden verlassen wir Akureyri mit prall gefüllten Mägen und fahren weiter der Nordküste entlang. Wobei es eher ein Stop-and-go ist denn ein Fahren: Im Schnitt alle Viertelstunde entdeckt Nils einen neuen Spot, an dem wir unbedingt eine Timelapse oder Langzeitbelichtung machen müssen. Und so fahre ich immer wieder rechts ran, Nils baut sein Kameraequipment auf, stellt die Timelapse ein, und dann wandern wir die nächste halbe Stunde ein bisschen durch die Gegend, suchen Blaubeeren und vertreiben uns die Zeit, die eine solche Timelapse eben beansprucht.
Nicht weiter verwunderlich, kommen wir so sehr viel später als erwartet in Siglufjörður an, sodass das Heringmuseum, zu dem uns geraten wurde, leider schon geschlossen ist. Ich bin mir sicher, wir haben da etwas Grossartiges verpasst.
Stattdessen nutzen wir die idyllische Szenerie des kleinen Fischerdörfchens, um – ge- nau! – eine Timelapse zu machen. Wir richten uns auf einem Steg ein, an dem ein altes Fischerboot vertäut liegt. Die Zeit verstreicht, es wird dunkler, und die Temperaturen fallen. Dreimal renne ich zurück zum Auto, bis wir schliesslich mit unseren dicksten Jacken, Handschuhen, Schals, Mützen und einer grossen Kanne Tee ausstaffiert sind.
Weil es sich beim blossen Stehen und Warten trotzdem anfühlt, als würden meine Beine gefrieren, beschliessen wir (also ich) zu tanzen. Musik vom Handy angemacht, Arm um die Hüfte gelegt, und schon schwingen wir im Discofox über den Holzsteg. Von Nils’ Gesicht ist die Begeisterung eindeutig abzulesen. Aber ich habe meinen Spass! Ein Glück, ist es bereits so spät: Die Strassen sind menschenleer.
Alte Zeiten
Nachdem wir am vorigen Tag wieder mitten in der Nacht auf dem Campingplatz angekommen sind und mit steifen Fingern und klappernden Zähnen das Zelt aufgebaut haben, sehen wir uns heute Morgen ein wenig in Hofsós um und gehen schwimmen. Das Freibad ist direkt am Ufer gelegen, sodass man einen gigantischen Ausblick über den Fjord hat. Kann es einen besseren Start in den Tag geben?
Anschliessend gehts nach Hólar in ein Pferdemuseum. Nachdem sich unsere Führerin versichert hat, dass wir selbst keine Pferdebesitzer sind, macht sie einen Witz nach dem anderen über die pferdefanatischen Besucher, die sie sonst durch dieses Museum führt.
Das Beeindruckendste ist wohl ein nachgebauter Stall von 1960 – der ebenso gut in eine Mittelalterausstellung in Deutschland gepasst hätte. Die Wände bestehen aus Treibholz, weil es, bevor die Isländer angefangen haben, überall so viele Bäume zu pflanzen wie möglich, kaum Wälder gab. Die Sättel sind aus grobem Leder mit Schlaufen, um Heuballen daran zu befestigen. In den 1960er-Jahren parallel dazu: erste Raumschiffe mit Lebewesen an Bord im All, die Erfindung des Mikrochips und des Kassettenrekorders. Da wird einem zum ersten Mal bewusst, was es bedeutet, auf einem kleinen abgeschnittenen Inselstaat mitten im Atlantik zu leben. Als wir aus dem Museum treten, spüren wir doch tatsächlich die ersten Regentropfen in dieser Woche. So flüchten wir schnell ins Auto und lassen Hólar hinter uns.
Die Dämmerung bricht bereits herein, als wir die Þingeyrarkirkja erreichen – eine alte Kirche inmitten eines atemberaubenden Panoramas. Während Nils über die Friedhofsmauer springt, Bilder von der Kirche macht und seine Timelapse aufbaut, koche ich im Windschatten unseres Autos Nudeln. Aus einem mir rätselhaften Grund beäugt Nils mein Essen etwas skeptisch. Aber dann siegt doch der Hunger.
Berserker und Trolle
Ein letztes Mal mit steifen Gliedern aus dem Zelt in die Kälte klettern, ein letztes Mal die Schlafsäcke zusammenrollen, ein letztes Mal Haferschleim essen. Der achte Tag bricht an und mit ihm der Anfang vom Ende unseres Rundtrips. Natürlich darf für einen gelungenen Tag in Island ein Wasserfall nicht fehlen – heute stehen sogar drei auf dem Programm! Wir besuchen Hraunfossar und Barnafoss, die beide in den gleichen Fluss münden. Und Fossatún, von dem es heisst, dass er von einem Trollweibchen namens Drifa bewacht wird. Wenn man das so hört, stellt man sich weiss Gott was für einen Wasserfall vor. Tatsächlich ist Fossatún aber kaum mehr als ein Bach, der über ein paar Steine plätschert. Dafür findet man hier lauter Tafeln, auf denen eher gruselige Trollgeschichten über Drifa erzählt werden. Angeblich als Gutenachtgeschichten für Kinder. Die Isländer scheinen punkto Kindererziehung nicht zimperlich zu sein.
Spiel niemals Eishockey mit deinem Vater – zumindest nicht, wenn er die unangenehme Eigenschaft besitzt, sich in ein Tier zu verwandeln.
Teilweise ist die Ausstellung fast gruselig, besonders dort, wo es um Egils Grossvater Kveldúlf geht – einen Berserker, der hoffentlich nicht ganz so abstrus aussah wie die Figur mit der Wolfsmaske, an der man vorbeigehen muss. Auf jeden Fall wissen wir jetzt: Spiel niemals Eishockey mit deinem Vater! Zumindest nicht, wenn dieser die unangenehme Eigenschaft besitzt, sich spontan in ein wildes Tier zu verwandeln.
Ehe wirs uns versehen, haben wir auch schon wieder Reykjavík erreicht. Nach acht Tagen auf der Strasse kommt uns die Stadt plötzlich wie eine Metropole vor, der viele Verkehr und die Leuchtreklamen wirken beinahe verstörend. Aber ich muss sagen, die Aussicht, heute Nacht in einem richtigen Bett auf einer richtigen Matratze und mit einer wohlig warmen Decke in einem gut isolierten und nicht tropfenden Zimmer zu schlafen, hat was. Trotzdem ist es ein sehr seltsames Gefühl, als wir unseren Wagen schliesslich wieder bei seinem Eigentümer abliefern – und dieser mit unserem Auto davonfährt.
Gemeinsam in der Einsamkeit. Das Paar blieb fünf Monate auf Island und hält nicht nur auf Reisen zusammen wie Pech und Schwefel.
Die Reportage erschien erstmals im Globetrotter-Magazin Schweiz. Verpasse keine Ausgabe mehr und abonniere das Globetrotter-Magazin hier.