Der Ferrari FF polarisiert. Fahrbericht: Ferrari FF
Der Ferrari FF im Drift

 

Der Ferrari FF polarisiert. Doch er repräsentiert einen Markstein in der Firmengeschichte. Wir sind ihn in den Dolomiten ausgiebig gefahren.

Es gibt bei diesem Ferrari kein grosses “Aber”.

Wir haben 250 Kilometer reiner Zwölfzylinder-Freude in den Südtiroler Dolomiten erlebt, und als wir wieder zurückkehrten, wollten wir nichts als weiterfahren. Zugegeben, wir würden uns nicht über ein besseres Telematiksystem als das eingebaute Harman Kardon-Gerät beschweren, und die Lenkung könnte auf griffiger Piste mit einem Hauch weniger Servounterstützung auskommen – aber damit haben wir die Liste der Kritik bereits abgearbeitet.

Ein aufs Wesentliche reduzierter Fuhrpark

FF bedeutet “Ferrari Four” – und dieses unverschämt andersartige Auto kostet rund CHF 360’000. Das ist günstig. Warum soll man einen Panamera Turbo S, einen Jeep Grand Cherokee Limited 4×4, eine Corvette ZR1 und einen Ford Transit Connect in der Einfahrt herumstehen haben, wenn man sowohl Geld als auch Stellfläche mit einem dieser genialen, allradgetriebenen 660-PS-Ferrari FF einsparen kann? Ihm fehlt nur noch das Kofferset von Schedoni (ca. CHF 10’000) aus dem gleichen handschuhweichen Leder wie die Innenausstattung gefertigt. Und jene Besitzer eines BMW xDrive oder ähnlich gewöhnlicher Automobile, die sich in den Internet-Foren darüber verbreiten, welch schweren Schlag der FF für die Historie der Marke Ferrari bedeutet: Mögen sie schweigen. Der FF ist ein genialer Schachzug einer Marke, die sich beinahe in eine Sackgasse manövriert hat und der es zuletzt immer schwerer fiel, ihre Zwölfzylinder-Traumwagen an den Mann zu bringen.

Ferrari-FF-Motor

 

Der 6,3-Liter-V12 leistet 660 PS

Weil es so schwer geworden ist, Zwölfzylinder an den Mann zu bringen, muss eine neue Maschine mehr bieten als nur schiere Kraft. Und tatsächlich verfügt der 660 PS starke Front-Mittelmotor über höchst anspruchsvolle Technik. Die neue 6,3-Liter-Maschine, die auf die Bezeichnung F140 EB hört, hat mehr mit dem F140 C aus der 599-Serie gemein als mit dem F133 F aus dem Vorgängermodell 612 Scaglietti, der nun geradezu historisch wirkt. Es gibt eine Hochdruck-Direkteinspritzung, spezielle Ventile im Ölsumpf – und 15 Prozent weniger Verbrauch. Das maximale Drehmoment liegt bei 683 Nm.

Es ist an dieser Stelle angebracht, ein paar Worte über das Design und Packaging zu verlieren. Zunächst einmal befand sich Ferrari – ebenso wie Porsche und andere, weniger erwähnenswerte Marken – in der Position, etwas im weitesten Sinne “Praktisches” anbieten zu müssen. Doch dies in Massen: Erfreulicherweise ist der FF zwar 35 Millimeter höher als der 612 Scaglietti, aber immer noch 38 Millimeter flacher als ein Panamera Turbo S. Die übrigen Abmessungen stimmen fast vollständig mit dem 612 Scaglietti überein, obwohl Alu-Chassis und jedes Karosserie-Panel (ebenfalls aus Aluminium) völlig neu sind. Die Quintessenz: Der FF ist niedrig genug, um als zweitüriger Supersportwagen durchzugehen. Und weil Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo einmal versprach, niemals einen viertürigen Ferrari zu bauen, dürfte der FF so nahe an einer Limousine oder einem Crossover liegen wie überhaupt möglich.

Hinten sitzen auch Grossgewachsene überraschend bequem

Es ist kaum zu glauben, dass es Ferrari gelungen ist, ein Fondabteil zu kreieren, in dem auch zwei Zwei-Meter-Männer genügend Kopf- und Beinfreiheit haben. Darüber hinaus gibt es einen Kofferraum, der sich von 450 auf 800 Liter erweitern lässt, indem man die Rücksitze einfach nach vorn fallen lässt. Bei anderen Marken wäre das zwar keine erwähnenswerte Leistung, aber immerhin haben wir es hier mit einem 335-km/h-Geschoss zu tun, das eine Symphonie aus Ansaug-, Verbrennungs- und Auspuffgeräusch beherrscht, die einem vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen treibt.

Die formale Flächenbehandlung des Hecks und die grossen 20-Zoll-Felgen helfen den Proportionen des FF. Und während wir uns beim 458 Italia nicht ganz an das LED-Gesicht gewöhnen konnten, passt es zum FF einfach perfekt. Aber ist die nicht Kühlermaske zu gross? – Der V12 braucht viel, sehr viel Luft, um einen kühlen Kopf zu bewahren.

Sitzt man erst einmal im vielfach verstellbaren Fahrersitz, fällt der Blick direkt auf das Lenkrad, das eindeutig von jenem Werkzeug inspiriert ist, an dem sich Felipe Massa und Fernando Alonso jedes zweite Wochenende betätigen dürfen. Ferrari hat die konventionellen Lenkstockhebel konsequent verworfen und konnte so die an der Lenksäule montierten Kohlefaser-Schaltpaddel näher als je zuvor am Lenkrad positionieren. Neben dem in fünf Modi operierenden Manettino-Knopf und dem roten Startknopf hat Ferrari die Blinkerbetätigung in die 3- und 9- Uhr-Positionen am Lenkrad integriert – eine überraschende Offenbarung an Funktionalität.

Erfreulicherweise wurden wir auf unserer Testfahrt durch Südtirol durch zahlreiche, offenbar nach akustischen Kriterien ausgesuchte Tunnel geleitet, woraus eine Reihe eigentlich überflüssiger, aber dennoch unvermeidlicher Schaltmanöver resultierte. Die Reaktion auf das Gaspedal ist so bissig und der Klang so phantastisch, dass wir ganze Berge zum Klingen brachten.

Dahinter verbirgt sich Substanz. Der V12 treibt den 1881 Kilogramm schweren FF mit einer solchen Vehemenz voran, dass man glaubt, er wiege eine halbe Tonne weniger.

Die offiziellen Beschleunigungswerte liegen bei 3,7 Sekunden von 0 auf 100 km/h – wir tippen eher auf reale 3,3.

Die wichtigste Innovation im FF ist das Übersetzungsgetriebe, das vor dem Motor direkt an der Kurbelwelle angebracht ist. Es arbeitet mit zwei Übersetzungen und sorgt dafür, dass beim FF nur dann die Vorderachse angetrieben wird, wenn es nötig ist. Braucht man eigentlich permanent Allradantrieb? Wohl kaum. Zum Beispiel nicht im 5. bis 7. Gang.

Das System nennt sich “4RM” – “4 Ruote Motrici”, also vier angetriebene Räder – und es ist ein Maranello-Patent, das in Zukunft noch viele andere Hersteller nutzen werden. Es tritt nur in den unteren vier Gängen in Erscheinung, wobei in den Gängen ein und zwei vorn eine andere Übersetzung als in den Gängen drei und vier anliegt. In den drei obersten Gängen fünf bis sieben werden ausschliesslich die Hinterräder angetrieben. 4RM ist mechanisch simpler als ein herkömmliches Allradsystem, es wiegt die Hälfte – und es reagiert seidenweich.

Der FF lässt sich perfekt im Drift halten

Das Fahrwerk ist grenzenlos kompetent, ob in Haarnadelkurven, auf Schotter oder auf schnellem Asphalt. Die Brembo CCM-Keramikbremsen arbeiten genauso präzise wie das von Delphi entwickelte, magnetorheologische Dämpfersystem. Die Gasannahme ist sensationell. Überholmanöver geschehen wie in Trance. Dabei sorgt auch die Schaltung für magische Momente. Das Getrag-Doppelkupplungsgetriebe funktioniert besser als das bekannten Ein-Kupplungs-Getriebe von Graziano. Und dank des perfekten Zusammenspiels von 245er-Reifen vorn und 295er-Reifen hinten – beide Serie 35 -, dem 4RM-System, und dem System zur Drehmomentverteilung an der Hinterachse kamen wir uns beinahe unverwundbar vor. Auf Schnee funktioniert das ganze mindestens ebenso gut – insbesondere mit den optionalen Pirelli-Sottozero-Reifen. Kontrolliertes Übersteuern wird zum Kinderspiel, und wir wurden sogar von der Presseabteilung dazu aufgefordert – ein Novum bei Ferrari.

Es sind genau diese Momente, in denen das Heck im kontrollierten Drift gehalten wird, in denen die ganze Gleichung FF auf das harmonischste aufgeht. Dabei hilft die Ferrari-typische 47/53-Gewichtsverteilung vorn und hinten. Untersteuern haben wir unter keinen Umständen feststellen können.

Ferrari hat sich mit dem FF geradezu neu definiert. Zugegeben, er ist die Antwort auf eine Frage, die draussen niemand gestellt hat. Man darf sich allerdings beschämt fragen: warum eigentlich nicht?

Ferrari FF – Technische Daten:

Zweitüriger, viersitziger Shooting Brake, Länge 4,91 m, Breite 1,96 m, Höhe 1,38 m, Radstand 2,99 m, Allradantrieb, Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe, 6,3-Liter-V12-Motor, 485 kW/660 PS bei 8.000 U/min, 683 Nm bei 6.000 15,4U/min, 0-100 km/h in 3,7 s, Vmax 335 km/h, Verbrauch 15,4 l 100 km